- 05.09.2024 - 16:40
Der Begriff des digitalen Nomadentums ist erst gut 10 Jahre alt. Daniel Schlagwein führte ihn ein, als er über sog. «Beach Lancers» sprach – Leute, die von exotischen Orten aus arbeiteten. Möglich wurde das ortsunabhängige Arbeiten ab den 2010er-Jahren durch die weltweite Verfügbarkeit des Internets, günstige Kommunikationsmittel und erschwingliche Flugpreise. Schlagwein schätzt, dass es heute weltweit etwa 50 Millionen digitale Nomaden gibt – eine Zahl, die die aktuelle Bevölkerung traditioneller Nomaden, die auf 30-40 Millionen geschätzt wird, übersteigt. Die Erfassung und Regulierung der Gruppe ist jedoch schwierig, da viele digitale Nomaden unter dem Radar operieren, oft mit Touristen-Visa reisen und damit nicht erfasst werden können.
Daniel Schlagwein definiert es so: «Digitale Nomaden sind Menschen, die dank digitaler Technologien ortsunabhängig arbeiten und gleichzeitig dauerhaft oder für längere Zeitabschnitte reisen». Sie sind – ohne feste Heimadresse – global unterwegs und ihr eigener Chef. Im Gegensatz zu traditionellen Arbeitnehmenden, die an ein Unternehmen und einen Nationalstaat gebunden sind, klinken sich digitale Nomaden aus traditionellen Strukturen aus. Die meisten sind marktwirtschaftlich orientiert, aber skeptisch gegenüber grossen Unternehmen, und vertreten einen postmodernen Ansatz zu Arbeit und Leben. Eine stimmige Work-/Life-Balance, individuelle Freiheit und Selbstorganisation sind für sie wichtiger als Werte wie lokale Verankerung oder soziale Sicherheit.
Der Aufstieg des digitalen Nomadentums hat bedeutende Auswirkungen auf Nationalstaaten und Volkswirtschaften. Man könne sich fragen, ob das Prinzip von Nationalstaaten noch zeitgemäss sei, meint Daniel Schlagwein. Er betont, dass digitale Nomaden zu einem wichtigen Teil der Besuchswirtschaft geworden sind; für lokale Ökonomien sind sie potenziell lukrativer als Massentouristen, da sie länger am selben Ort bleiben, oft auch in der Nebensaison. Ihre Mobilität stellt jedoch eine Herausforderung für traditionelle Steuersysteme dar, da viele digitale Nomaden keine Einkommensteuer zahlen: Sowohl in ihren Heimatländern als auch in den Arbeitsländern fehlen entsprechende Steuerkategorien, was ihnen ermöglicht, durch die Maschen der staatlichen Kontrolle zu schlüpfen.
Anhand von Fallstudien aus Thailand, Kolumbien, Portugal und weiteren Destinationen zeigt Daniel Schlagwein auf, welche Vor- und Nachteile digitale Nomaden einem Aufenthaltsland bringen: Zu den Vorteilen zählt er, dass sie Geld für Unterkunft und Essen in touristisch attraktiven, aber eher ärmeren Ländern ausgeben. Sie bewirken, dass sich die lokale technische Struktur verbessert, Co-Working- und Co-Living Spaces eingerichtet werden und im besten Fall ein Wissentransfer stattfindet. Und sie tragen dazu bei, die globale Sichtbarkeit dieser Länder zu verbessern und ihr Image aufzuwerten. Das digitale Nomadentum kann aber auch negative Auswirkungen haben: Die Mieten an ehemals günstigen Orten werden in die Höhe getrieben und somit für Einheimische fast unerschwinglich. Die digitalen Nomaden erhalten ihr Gehalt von Firmen ausserhalb des Landes und tragen damit wenig zur Stärkung der lokalen Wirtschaftskraft bei. Zudem benutzen sie die Infrastruktur eines Gastlandes, ohne dafür Steuern zu bezahlen.
Verschiedene Länder haben den Wert von digitalen Nomaden erkannt: Kolumbien bietet ein spezielles Visum für sie an, ebenso Thailand: Hier wirkte Daniel Schlagwein beratend bei der Entwicklung des neuen Visums mit, das es seit dem 1. August dieses Jahres digitalen Nomaden erlaubt, offiziell für längere Zeit in Thailand zu leben und zu arbeiten. Japan – sonst beim Thema Immigration sehr zurückhaltend – versucht, digitale Nomaden mit verlockenden Angeboten ins Land zu holen, sozusagen als Gegengewicht zur überalterten und zahlenmässig schrumpfenden eigenen Bevölkerung.
Der Research Talk von Prof. Schlagwein vermittelte einen spannenden Einblick in ein neues Forschungsfeld und regte dazu an, Vorstellungen von Arbeit, Mobilität und der Zukunft von Nationalstaaten in Zeiten der zunehmenden Globalisierung zu überdenken. Digitales Nomadentum tönt auf den ersten Blick verlockend: Arbeiten, wann, soviel und wo man will – und daneben das Leben an Orten geniessen, wo andere Ferien machen. Auf der anderen Seite können oder wollen nicht alle Arbeitnehmenden auf eine "Heimadresse" und die damit zusammenhängende soziale Sicherheit verzichten. Für jüngere, ungebundene und gut ausgebildete Menschen bildet das digitale Nomadentum zweifellos eine spannende Alternative.
Das «Echo der Zeit» von Radio SRF beschäftigte sich übrigens kürzlich mit dem neuen Visum für digitale Nomaden in Thailand und interviewte dazu auch Prof. Daniel Schlagwein. Anzuhören unter www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/thailand-hochburg-des-digitalen-nomadentums